Ein Plädoyer für Gewohnheiten, Schreibschrift und Geschenkschleifen

Unsere Reiseroute hat uns am Wochenende fast 600 km weiter nach Nordwesten geleitet. Wir sind sozusagen auf dem Rückweg, dazu passend sind die Temperaturen gleich mal um 20 Grad gefallen, das Eichenlaub liegt rostrot auf den Straßen und abends um viertel vor sechs ist es stockfinster. Klingt fast wie Norddeutschland, ist aber noch Bulgarien. Kurz vor der Grenze zu Rumänien werden wir ein paar Tage bleiben, um dann am kommenden Wochenende in einem Stück durch Rumänien durchzufahren. Aufgrund der Test- und Quarantänebestimmungen lohnt sich Rumänien für uns als Reiseziel diesmal nicht, sodass unsere nächste Station Ungarn sein wird. Ich bedauere das ein wenig, denn ich bin von Bulgarien als Reiseland sehr positiv überrascht und hätte auch in Rumänien gern einige Reiseerfahrungen gesammelt.

Als Reiselektüre hatte ich mir „die 1%-Methode“ von James Clear als Hörbuch mitgenommen. In der verworrenen Annahme ich könnte auf dem Beifahrersitz sitzen und in Ruhe meinem eigenen Hörbuch lauschen. Ich hatte das Achtung-Tagtraum-Schild übersehen. Merkwürdigerweise hat sich dieses Buch (welches ich übrigens ausdrücklich NICHT besonders empfehle) als Familienlektüre während langer Fahrten bewährt. Allerdings ist es nicht ganz so entspannend, das Buch mit der ganzen Familie zu hören. Denn ständig ruft jemand „Stop“ und dann müssen Teilabschnitte ausdiskutiert und gedeutet werden. Diese Form des „Lesens“ konnte ich schon im Deutschunterricht nicht leiden. Sei’s drum, ein spannendes „Projekt“ dieses Buch mit der ganzen Familie zu hören ist es allemal. James Clear erklärt, wie wichtig die kleinen Gewohnheiten sind und das sich damit quasi die Welt verändern lässt.

Dazu habe ich ein kleines aber enorm weitreichendes Beispiel aus unserem Schulalltag. Seit diesem Schuljahr haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, unseren Schultag mit einem kurzen Schreibschrifttraining zu beginnen. Das hat folgenden Hintergrund: Im letzten Schuljahr habe ich festgestellt, dass Finja sich schwer tut längere Texte zu schreiben. Gezielt habe ich versucht, das mit ihr zu erarbeiten, aber wir schienen in einer Sackgasse zu stecken, nichts lief – alles klemmte. Nach einer halben Seite geschriebenen Textes klagte sie über Hand- und Nackenschmerzen, das Schriftbild war gelinde gesagt grauenhaft, die Buchstaben schienen über das Blatt zu hüpfen, die Schreiblinie berührten sie bestenfalls zufällig, oft passte das Verhältnis der Oberlängen der Buchstaben nicht zum Rest des Wortes, von Orthographie war keine Rede und auch Grammatik, Satz- und Textbau wurden willkürlicher je länger der Text wurde.

Die Frage „was läuft da schief?“ hat mich mehrere Monate beschäftigt, bis ich durch Zufall auf die Internetseite von M.A. Schulze-Brüning gestoßen bin. Bei der Lektüre ihrer Seite kam plötzlich Licht ins Dunkel und ein Aha-Moment folgte dem Nächsten. (https://www.handschrift-schreibschrift.de)

Es scheint nämlich so zu sein, dass dieses „Schriftbild“ in den Schulen gar keine Seltenheit darstellt. Es ist sogar so wenig eine Seltenheit, dass Frau Schulze-Brüning ein Buch (Wer nicht schreibt bleibt dumm) zu dem Thema geschrieben hat und seit Jahren dazu forscht. Die Quintessenz des Buches ist ungefähr so: dadurch, dass die Kinder in den Schulen überwiegend keine verbundenen Schreibschriften mehr lernen (die Grundschrift ist nämlich trotz der Bindebögen keine Schreibschrift! – und die vereinfachte Ausgangsschrift funktioniert auch nicht) und zusätzlich weniger Zeit zum und Anleitung beim Üben haben, entstehen diese ungelenken und hinderlichen Schriften.

Letztendlich beschreibt sie in ihrem Buch genau das, was ich beobachte. Bis zum Ende der Grundschulzeit geht es mehr oder weniger gut mit der Schrift und ab der 5ten Klasse wird eine höhere Schreibgeschwindigkeit und inhaltlich mehr Substanzielles erwartet. Für einen Teil der Schüler (in dem oben genannten Buch habe ich gelesen, dass betrifft 31% der Mädchen und 51% der Jungen) ist es dann, als ob sie mit einem Trabbi zur Formel 1 antreten. Was schade ist, denn die Schrift soll eigentlich ein nützliches Handwerkszeug und keine Belastung sein.

Bei dem, was ich gelesen habe, bin ich ehrlich gesagt erstaunt, dass nicht mehr Schüler aufschreien. Da grenzt ein zweiseitiger Aufsatz an ein Martyrium. Das muss man sich als schnell schreibender Erwachsener mal überlegen, da hocken die Kinder eine Stunde oder länger über dem Papier, Hand und Nacken tun weh, es sieht richtig doof aus, ist furchtbar anstrengend und man weiß schon, dass jeder der es lesen soll ob der äußeren Form die Nase rümpft, bevor er sich dem Inhalt gewidmet hat. Und den Hauch einer Ahnung wie man es besser machen könnte hat man auch nicht. Ehrlich gesagt … ich würde gar nicht erst anfangen! Im Übrigen leidet natürlich auch der Inhalt wenn das Schreiben selbst eine Belastung darstellt. Mit einer stumpfen Schere macht man auch keinen glatten Schnitt.

Zurück zu unserer Gewohnheit. Seit Beginn des Schuljahres starten wir unseren Schultag also mit Frau Schulze-Brünings Schreibschrift-Training, vorausschauend natürlich alle drei Schüler. Wie sie in ihrem Buch voraussagt, lieben die Kinder es an ihrer Schrift zu arbeiten und sich nur auf das Schreiben und nicht auf Inhalte zu konzentrieren. Das hätte ich nicht erwartet, alle drei sind mit Feuereifer bei der Sache und die Erfolge sind beeindruckend. „Schneller, besser, lieber“ fasst es wohl am besten zusammen. Es ist so einfach, wir sitzen jeden Morgen fünf bis zehn Minuten zusammen, ich trinke meinen Kaffee, die Mädels bearbeiten eine Seite in ihrem Arbeitsheft und alle haben ihre Gedanken gesammelt und sind anschließend im Schulmodus. Es ist zu einem festen Ritual geworden, das wir sehr lieben.

Laut James Clear sind es solche festen Gewohnheiten, die uns die größten Erfolge erzielen lassen und uns den Freiraum für Interessantes und Kreatives schaffen. Er hat recht behalten, ich hätte nicht erwartet, dass aus dieser kleinen Gewohnheit so viel Gutes entsteht. Denn eine hübsche und flüssige Handschrift und Freude am Schreiben sind schon ein besonderes Geschenk und jeder Morgen der mit diesen ruhigen, fast meditativen Minuten startet ist eine besonders schöne Geschenkschleife.

In diesem Sinne schreiben wir nun unsere Namen in den Sand – in Schreibschrift!

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